Das Werk des Schweizer Tiefenpsychologen C.G.Jung spielt in der heutigen öffentlichen Diskussion Deutschlands kaum eine Rolle obwohl fast alle Konzepte von ihm selbstverständliche Werkzeuge von Psychologen und Consultants und manche seiner Begriffe Teil der Alltagssprache sind. Ähnlich werden Leni Riefenstahls damals die Zukunft verwegnehmenden, filmischen Konzepte in Film und Kunst routinemässig eingesetzt. Man findet C. G. Jungs Namen auf exklusiven Kongressen seiner Anhänger, oder aber in Verbindungen mit Verdächtigungen, die von “Unwissenschaftlichkeit” bis zu Vorwürfen des Antisemitismus oder der NS-Verklärung reichen. Leni Riefenstahl wird heute von rechten Mystikern vereinahmt oder von der Mittelmässigkeit des Mainstreams und der Linken “als Nazi who won’t die” verdammt. Oder von Filmliebhabern bewundert.
In Deutschland genügen oft einige solcher Anwürfe – ob berechtigt oder nicht – um einen Autor mit einem Schatten zu belegen ohne sein Werk begreifen zu müssen. Da ich Jung für den Psychanalytiker des 20. Jahrhunderts halte, der gerade zu Religion und Mythen uns heute noch viel zu sagen hat, ist es für mich notwendig, solche Vorwürfe mit dem innersten Kern seines Werkes zu vergleichen. Dabei stiess ich auf Leni Riefenstahl, ähnlich brilliant und ebenso negiert in Deutschland. Leni Riefenstahl schuf in ihren 101 Jahren ein beeindruckendes Werk aus Filmen und Photos. Sie war gleichzeitig eine der einflussreichsten und eine der umstrittensten Filmschaffenden. Während ihre ästhetischen Ansätze und dokumentarischen Methoden noch heute vielfach imitiert werden, wurde ihr Name gleichbedeutend mit den Gegenständen ihrer Filme: Die Glorifizierung des Nazi-Regimes. Unglaublich, wie unterschiedlich zwei brilliante Grössen mit den Verlockungen einer “Kultur der Krieger” und der Benutzung der Ästethik durch die Macht umgingen.
Woman in blonde wig (Brigitte Lin) Somehow I’ve become very cautious. When I put on a raincoat, I put on sunglasses too. Who knows when it will rain, or when it will turn out sunny?
Oppertunismus und Karriere
Auf dringende Bitten seiner Kollegen übernahm Jung den Vorsitz der “Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie”, die einen internationalen Charakter hatte, und nutzte seinen Freiraum als Schweizer, um den internationalen Status und die politische Neutralität der Organisation zu garantieren und brachte auch den Nazis Missliebige in der internationalen Sektion unter. Es gab also einen internationalen Dachverband mit verschiedenen Ländergruppen. Die offizielle Zeitschrift der internationalen Vereinigung war das “Zentralblatt für Psychotherapie”. Ein Stein des Anstoßes sind einige Formulierungen Jungs aus einem Aufsatz, den er 1934 im “Zentralblatt für Psychotherapie” veröffentlichte. Probleme entstanden für Jung, als Prof. Göring (der Vorsitzende der deutschen Ländergruppe) 1934 ein deutsches Beiheft (“Deutsche Seelenheilkunde”) plante, das auch in der regulären Nummer des Zentralblattes erschien, wodurch der Herausgeber Jung unfreiwillig in die Rolle des NS-Befürworters geriet.
Leni Riefenstahl wird in Peter Wartson’s “German Genius” erwähnt. Leni Riefenstahl zeigte im “Blauen Licht” (1932), ihrer ersten eigenen Produktion, in der sie obendrein – aus Geldmangel – Regie führte was in ihr steckte. Der Film gewann bei der Biennale in Venedig Silber und viele weitere Auszeichnungen. Mit der Machtübernahme boten sich der Riefenstahl neue Aufgaben. Aufgaben, denen sie sich aber nur widerstrebend hingegeben haben will. Da kam der Hitler dazwischen, der Film “Blauen Licht” und “Der heilige Berg” haben ihm gefallen. Sie machte Dokumentarfilme, die Meilenstein der Filmästhetik waren, andererseits perfekte Überhöhungen und Symbolik für das damalige Deutschland und die Nationalsozialisten boten.
Zeitgeist
Problematischer Zeit völkerpsychologische Unterscheidungen zwischen “Germanen” und “Juden” erwiesen sich als fatal. Unterscheidungen zwischen der Mentalität verschiedener Völker hatte zwar auch Jung’s Lehrer Sigmund Freud vorgenommen, der etwa seinem Kollegen K. Abraham schrieb, dass dieser aufgrund seiner jüdischen “Rassenverwandtschaft” Freud’s Auffassung von Psychoanalyse näher stünde als Jung. (2) l. So schrieb C.G. Jung in dem Aufsatz “Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie”, der Jude sei aufgrund seiner langen Leidensgeschichte desillusionierter, habe keine eigene Kulturform und brauche zu seiner Entfaltung “ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk”. Demgegenüber seien die noch jungen germanischen Völker energiegeladener und enthielten “Spannkräfte und schöpferische Keime von noch zu erfüllender Zukunft.” (3).
Liest man diese Begriffe ohne den Kontext des Gesamtwerkes, erschrickt man zunächst, aller5dings bewertet Jung keineswegs das “Barbarische” des Germanen pauschal höher gegenüber einem für minderwertig erklärten Judentum. Wenn er vom unterdrückten Barbaren im Deutschen spricht, schwingt immer auch Schrecken und Warnung mit. Schon in seiner Krise 1918 sah er voraus, dass archaische und unterdrückte Regungen gerade auch bei diesem “Kulturvolk” ein besonders gefährliches politisches Potential bilden könnten: “Das Christentum zerteilte den germanischen Barbaren in seine untere und obere Hälfte, und so gelang es ihm – nämlich durch Verdrängung der dunklen Seite – die helle Seite zu domestizieren und für die Kultur geschickt zu machen. Die untere Hälfte aber harrt der Erlösung und einer zweiten Domestikation. Bis dahin bleibt sie assoziiert mit den Resten der Vorzeit, mit dem kollektiven Unbewußten, was eine eigentümliche und steigende Belebung des kollektiven Unbewußten bedeuten muß. Je mehr die unbedingte Autorität der christlichen Weltanschauung sich verliert, desto vernehmlicher wird sich die ‘blonde Bestie’ in ihrem unterirdischen Gefängnis umdrehen und uns mit einem Ausbruch mit verheerenden Folgen bedrohen.” (4)
Solche Formulierungen werden “(politisch) korrekten” Historikern nicht sonderlich gefallen, sind aber bedenkenswert, vor allem wenn man sich mit der deutschen Neigung zum Undemokratischen auch mit psychologischen Überlegungen nähern will. Jung wertet die Juden nicht einfach ab, sondern sieht in ihnen ein im Gegensatz zu den Germanen viel älteres und abgeklärteres Kulturvolk, das sich infolge seiner langen Geschichte menschlicher Schwächen bewußter sei. Dies ermögliche ihnen, “mit vollem Bewußtsein in wohlwollender, freundlicher und duldsamer Nachbarschaft ihrer eigenen Untugenden zu leben, während wir noch zu jung sind, um keine ‘Illusionen’ über uns zu haben.” (5) Jung hat – bereits damals für solche Äußerungen angegriffen – seine Aussagen zunächst als legitime “Völkerpsychologie” bezeichnet, die einem Forscher erlaubt sein müsse, um Unterschiede herauszuarbeiten. Er hat ausdrücklich betont, dass es sich dabei nicht um Werturteile handle. Auch die Feststellung von Differenzen zwischen englischer und chinesischer Mentalität seien ja normal und
schlössen nicht den Respekt vor einer alten Hochkultur aus. M.L.v.Franz vertritt mit C.G.Jung die These, dass sich, tiefenpsychologisch gesehen, hinter dem Phänomen des Nationalsozialismus ein religiöses Problem verberge. Es gehe um die Erneuerung des Gottesbildes. Das nationalsozialistische Hakenkreuz kann durchaus als der Schatten des christlichen Kreuzes verstanden werden. Auch die DDR (und das heutige Deutschland) kannte und kennt pseudo-religiöse Rituale und die Ausgrenzung – heute als Rassist.
Doch wäre es berechtigt, die Kapitalismuskritik von Karl Marx als Ganzes zu diffamieren, nur weil er den “Schacher” als das “Wesen des Judentums” bezeichnete oder von den Slawen als “Völkerabfällen” sprach, die vom nächsten Weltkrieg “vernichtet” werden müßten? (8) Jung mußte seinen eigenen Schatten – und die Antipathie zum Freudschen System – abarbeiten. Schon 1936, zwei Jahre nach den oben genannten problematischen Äußerungen, hält C.G. Jung einen Vortrag in London, wo er sich bestürzt über die politische Entwicklung in Deutschland äußert:
“Wenn vor dreißig Jahren jemand vorauszusagen gewagt hätte, daß die psychologische Entwicklung in Richtung eines Wiedererwachens mittelalterlicher Judenverfolgung gehen, daß Europa erneut vor den römischen Liktorenbündeln und unter dem Marschtritt der Legionen erzittern würde … und daß statt des christlichen Kreuzes eine archaische Swastika Millionen von Kriegern zu Todesbereitschaft anködern würde – man hätte diesen Mann als einen mystischen Narren verschrien. Und heute? So bestürzend es erscheinen mag, dieser ganze Wahnsinn ist gräßliche Wirklichkeit.” (9)
1933-1936 Bilder und Mythen
Nach der Machtergreifung holte Propaganda Minister Göbbels alle Filmemache zu sich und zeigte Ihnen den Film von Eisenstein, ” Panzerkreuzer Potkim” – so wollte er Filmkunst gestalten – Kunst mit(unauffälliger) Propaganda und mit Dokumentationen. Leni Riefenstahl war damals eine wenig bekannte Schauspielerin aus Weimar, die sich als Regisseur gerade selbst neu erfand. Sie machte 1934 “Triumph des Willens” – der Nürnberger Parteitag der NSDAP, die Ankunft Hitlers und seiner Helfer. Bewegte Kamera, wechselnde Perspektiven, souveräne Montagetechnik. „Triumph des Willens“ wurde durch Hitler selbst in Auftrag gegeben, der sie sehr zum Unmut von Göbbels direkt protegierte (sie belegte zeitweise sein ganzen Kameras). Der Film fing die erste Parteiversammlung in Nürnberg mit 16 Kameras ein. Nach zwei Jahren schneiden kam ein Film mit durchschlagendem Effekt heraus. Noch cleverer war „Olympia“ der die Spiele 1936 aufnahm. Ihr Ziel war – wieder mit hohem technischem Aufwand (89 Kameraleuten) und einer heute kaum mehr erreichten Astethik – „ennobled good losers, supreme winners, and endwelled on fine musculature particularly of Jesse Owns … to Hitlers extreme displeasure.“
Ebenfall 1936 (dem Jahr des Olympia Dokumentarfilms von Leni Riefenstahl) erscheint Jung’s berühmter “Wotan”-Aufsatz, der vom Aufbrechen eines “furor teutonicus” unter der dünnen Schicht christlich-aufgeklärter Kultur spricht und Deutschland als “geistiges Katastrophenland” bezeichnet, wo die Menschen eher von etwas “ergriffen” werden statt es zu “begreifen” (10). Alle von Jung’s folgenden Äußerungen zum Nationalsozialismus umkreisen von nun an die Frage, wie es ausgerechnet in einem hochentwickelten Kulturland zu einem solchen Verhängnis kommen konnte und aktualisieren seine Einsicht von der Notwendigkeit, sich intensiver mit den archaischen Regungen unterhalb der Zivilisationsoberfläche auseinander zusetzen. Was ihn einmal partiell fasziniert hatte – die euphorische Aufbruchsstimmung zu Beginn des Dritten Reiches – führt jetzt nicht nur zu Bestürzung und Ohnmacht, sondern zu tieferen Geschichtsanalysen, um einer bis heute kaum verstandenen Dynamik auf die Spur zu kommen. Dabei gibt es im Denkansatz übrigens Parallelen zur Frankfurter Schule, die ebenfalls im Nationalsozialismus eine nicht für möglich gehaltene Wiederkehr des Mythischen in “aufgeklärter Zeit” erblickten.(11) Jung findet seine alte Forschungshypothese bestätigt, daß Archetypen, kollektive Verhaltensmuster und archaische Bildwelten bewußt durchgearbeitet statt verdrängt oder unbewußt ausgelebt werden müßten. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa sieht er das Phänomen der “Dissoziation” vor sich: eine Spaltung der Kultur in einen rational-fortschrittlichen Teil, der glaubt, “primitive Stufen” überwunden zu haben, während diese in Wirklichkeit verdrängt worden seien. Denn gerade das, was Christentum und Aufklärung verhindern wollten, geschah trotzdem: Kollektivrausch statt individueller Freiheit, Blutmystik statt Verstandesklarheit, Kriegerkult statt Pazifismus, Anbetung von archaischen Symbolen statt christlicher Werte von Mitleid und Versöhnung. Interessant und bis heute zu wenig bedacht sind Jung’s auf Gesamteuropa ausgedehnte Schlußfolgerungen, zu denen er seine Analyse des Nationalsozialismus erweitert: Auch die Inquisition, die Hexenverfolgung, kolonisatorische Raubzüge des “weissen Mannes”, blutige Revolutionen oder das Vernichtungspotential der Atombombe seien letztlich Folgen einer “schizophrenen” europäischen Kulturentwicklung, die vorgab, mittelalterliche “Primitivität” überwunden zu haben, um in noch barbarischere Exzesse zurückzufallen.(12) Eine wichtige und bestürzende Erkenntnis, die – wie wir im Hass auf alles religiöse sehen – auch heute noch kritisches Potential in sich birgt.
Leni Riefenstahl bezeichnet sich als politisch nicht interessiert. Sie habe sich daher überfordert gefühlt von Hitlers Wunsch, dass sie den Parteifilm machen müsse. Doch hat sie, intuitiv oder geplant, Ablauf und Symbolik der Aufmärsche sofort erfasst – und filmisch überhöht. Sieht man “Tiumph des Willens”, scheint das also ein korrekte Analyse. Auch im Film “Triumph des Willens” ist ja nichts gestellt. Leni Riefenstah: “Das ist ein Zeitdokument. Das haben auch die Richter bei den Entnazifizierungen so gesehen. Es ist ein Zeitdokument. Ob es der Arbeitsdienst ist, oder ob es der Vorbeimarsch ist, oder die Jugend, vor der Hitler eine Rede hält. Das war damals so. Und damals waren die Leute, und nicht nur die Deutschen, auch die Ausländer, fasziniert. Und glauben Sie, dass der “Triumph des Willens” von Frankreich eine Goldmedaille bekommen hätte, kurz vor dem Ausbruch des Krieges, wenn sie den als Propagandafilm gesehen hätten, vorm Krieg, die Franzosen?”.
Nach dem Krieg
In einem 1946 geführten Gespräch mit dem Rabbiner und Auschwitz-Überlebenden Leo Baeck hat Jung Fehler eingestanden und sich entschuldigt, was zu einer Versöhnung zwischen den beiden führte. Der Kabbala-Spezialist Gershom Sholem berichtete diese Begebenheit, die für ihn ausschlaggebend war,weitere Einladungen Jung’s zu dessen Eranos-Tagungen anzunehmen. (13) Interessant ist diesbezüglich vor allem die Tatsache, daß sich jüdisch-amerikanische Gelehrte und Psychotherapeuten viel intensiver mit diesem Problem befaßten als ihre deutschen Kollegen. So gab es 1989 in New York eine wissenschaftliche Tagung (“Lingering Shadows”), die sich ausschließlich mit den Antisemitismusvorwürfen gegenüber Jung beschäftigte.(14) Hierbei wurde nicht mit Kritik gespart, doch ohne zu pauschalieren. Vor allem wurde auf das gespannte Verhältnis von Jung zu seinem jüdischen Lehrer Freud hingewiesen, das zu einigen überspitzten Verallgemeinerungen in dem oben genannten Aufsatz führte. Freud und Jung – anfangs auch eine Vater-Sohn-Beziehung – entzweiten sich unter Streit und Schmerzen, als die Unterschiede in ihrer Beurteilung der spirituellen Dimension der Seele zu eklatant wurden. Während Freud in der Religion nur unbewältigte Vaterproblematik, Aberglauben und Projektion erblickte, waren mythische Bilder und Gottsuche für Jung elementare Bedürfnisse des Menschen, sich mit verborgenen und transzendenten Kräften auseinander zusetzen. Er sah in Freud den Prototyp des säkularisierten Juden, der alle Spiritualität zugunsten eines “modernen” naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals verleugnete und übertrug diese Meinung voreilig auf das gesamte Judentum.
Leni Riefenstahl stieß als Fotografin nach dem Krieg rasch in die Weltspitze vor. Bildberichte über ihre Aufenthalte bei den Nuba erschienen zuerst in den Zeitschriften »Stern«, »The Sunday Times Magazine«,»Paris Match«, »L’Europeo«,»Newsweek« und »The Sun«. Vor allem ihre Bildbände »Die Nuba« und »Die Nuba von Kau« brachten ihr weitere Ehrungen und Auszeichnungen ein. Im Alter von 71 Jahren besucht Leni Riefenstahl einen Tauchkurs, um künftig auch als Unterwasser-Fotografin arbeiten zu können. Bald schon erwies sie sich auch in diesem Metier als Meisterin. Nochmal Leni Riefenstahl: “Insofern fühl ich mich schuldig, dass ich am Anfang, in den ersten Jahren so fasziniert war weil Hitler sein Versprechen gehalten hatte die Arbeitslosen wegzufischen und die ganze Not aus Deutschland zu verbannen. Aber ich hätte ja ebenso wie die anderen auch sehen müssen, dass man nicht in jüdischen Geschäften einkaufen durfte, sollte. Ich habe gekauft in jüdischen Geschäften aber es war an sich nicht erwünscht. Das alleine hätte mir zu denken geben müssen und das kann ich nicht verstehen heute, dass das nicht der Fall war. Ich war eben mit angesteckt von der ganzen fast hysterischen Begeisterung, die damals war.” Ich habe einmal eine Schauspielerin kennengelernt. die in dieser Zeit jung und produktiv waren. Vor diesem Hintergrund klingt das – für mich – plausibel- naiv .
Gottesbilder und atheistischen Utopien
J. Marvin Spiegelman’s “Judaism and Jungian Psychology” (1993) weist daraufhin, daß gerade nach dem Zerfall der marxistisch-atheistischen Utopien in aller Welt Fragen nach religiösen Wurzeln und Identitäten wieder neubelebt würden. (16) Die spirituellen Bedürfnisse der Seele seien mehr als bloßes “Wunschdenken”.
Tiefgreifende Lebensereignisse wie Tod, Verlust, Liebe, Krise und Verwandlung wollten auch bildhaftrituell erlebt werden. Gerade die Beschäftigung mit Jung habe Spiegelman auch wieder zu den eigenen religiösen Texten geführt und – etwa durch die Lektüre von dessen berühmter “Hiob” – Interpretation – zu einem vertieften Verstehen des jüdischen Gottesbegriffes.(19) Diesen wichtigen Essay von Jung ignoriert z.B. auch Richard Noll, der 1993 versuchte, dessen Psychologie als eine Art völkischer Ersatzreligion zu entlarven. (20) War Jahwe für Jung vielleicht anfangs noch eine einseitig strafende und überdimensionale Vaterfigur, so wird ihm 1952 durch die Lektüre der alttestamentarischen “Hiob”-Geschichte eine größere Vielschichtigkeit im Verhältnis von Jahwe zu den Menschen klar. (21) . Jung’s “Hiob”-Lektüre wird eine intensive Begegnung mit jüdischer Religion, aber er versucht auch, die Kontinuität innerhalb der Bibel zu verstehen, ohne das Alte gegenüber dem Neuen Testament abzuwerten. Im Gegenteil: Die Figur des Jesus Christus scheint ihm noch als zusätzliche Erfahrungsstufe Jahwes Sinn zu machen, aber als Jung bei der Johannes-Offenbarung ankommt, hat man den Eindruck, daß er die komplexe Figur des jüdischen Gottes doch seinem einseitig “guten” christlichen Pendant vorzieht. Er sieht sogar eine Gefahr darin, daß sich das Christentum hier zu einem schroff dualistischen Denken verengt, welches das “Böse” als “Satan” abspaltet und glaubt, es durch Verbannung aus der Welt schaffen zu können. Dies sei unrealistisches Wunschdenken, widerspräche der Realität der menschlichen Psyche und berge in sich die Anlage für zukünftige Katastrophen: “Als Ganzheit ist das Selbst … immer eine complexio oppositorum, und seine Erscheinungsweise ist umso dunkler und drohender, je mehr das Bewußtsein sich Lichtnatur vindiziert und daher auf moralische Autorität Anspruch erhebt.” (22)
Gut und Böse und Leni Riefenstahl
Gerade die Lektüre von Jung’s “Hiob” eröffnet auch ein tieferes Verständnis der Problematik des “Bösen”: Nur wer lerne, in sich das gegensätzliche Nebeneinander von “Licht” und “Dunkel” zu akzeptieren, könne letztlich auch der Erfahrung des Göttlichen eine angemessene Heimstatt bieten. (23) Übertragen auf den Nationalsozialismus könnte das heißen: Der, der die Möglichkeit der eigenen Verfehlung für denkbar hält, ist gefeiter gegen ideologische Verführung und dualistisches Feindbilddenken, weil dieses ja stets die eigenen Schatten nach außen projiziert. Was hat uns die Jung’sche Psychologie darüber hinaus heute noch zu sagen? Jung’s Archetypenlehre wird manchmal vorgeworfen worden, reaktionär zu sein, weil sie unbeweisbare “Urbilder” oder “ewige Grundmuster” statuiere und damit den Menschen zur unfreien Marionette gegenüber statischen Kräften mache. Doch eigentlich ist das Gegenteil der Fall: Jung wiederholt in seinem gesamten Werk immer wieder die Forderung, unbewußte Verhaltensmuster und suggestive Bilder ins Bewußtsein zu heben, um den Menschen einen freien Umgang mit ihnen zu ermöglichen.
Im Nationalsozialismus und mit Riefenstahl-Filmen geschah genau das Umgekehrte. Die Menschen gerieten in einen Rausch und überließen sich unbewußt atavistischen Strömungen und Symbolen, wurden von etwas “ergriffen” statt es zu “begreifen”. Sie traten nicht in ein kritisches oder befragendes Verhältnis zu archaischen Inhalten, sondern verfielen ihnen in blinder Hörigkeit. Ein Beispiel wie mächtig Bilder sind, zeigte der Film “Triumph des Willens” eine Auftragsarbeit für die NSDAP von einer offensichtlich intelligenten jungen Frau und brillianten Künstlerin, die sich mit kulturlosen Halsabschneidern einliess. Es liegt im Wesen des Films (und von Bildern), dass die Umstände seiner Entstehung verblassen. Riefenstahls Werke sind dabei, etwas zu werden wie Jungs Werke, dem man das Leben und Leiden, das sich um ihn herum abspielte, nicht mehr ansieht. Es bleibt nur noch das Bild – und so wird es den Riefenstahl-Filmen auch ergehen. Der Werbefilm ist zu weiten Teilen von Riefenstahl beeinflusst, was sich im Mystifizieren und Dramatisieren von Dingen zeigt, sei es ein Trainingsschuh oder ein Auto. Extreme Kamerawinkel, Kreisfahrten, Auflösungen, Schnitttechniken – was sie erfunden hat, wenden die Werberegisseure heute alle an, vom Nike-Spot bis zu MTV. Die “Krieg der Sterne”-Trilogie enthält Anleihen bei Riefenstahl; der Helm von Darth Vader sieht aus wie von der Wehrmacht ausgeliehen, und die Klonkrieger in der neusten Folge marschieren wie bei Truppen beim Parteitag. Ohne Standpunkt (“gut” oder “böse§ kann man keine realen Alltagssituationen dokumentieren, keine Figuren entwickeln und keine Geschichten erzählen. Um die Inschrift zu paraphrasieren, die C.G. Jung auf seinen Grabstein setzen ließ: „Ob gerufen oder nicht, Gott wird da sein.“ Es liegt nahe, daß große Bilder eine große Ausstrahlung haben. Auch heute ist diese Problematik trotz aller “Aufklärung” nicht aus der Welt. Aber “Vielleicht bedeutet die Kunst gar nichts, hat gar keinen Sinn, wenigstens so wie wir vom Sinn sprechen.” (23)
Zusammenfassung
Jung fordert keine nostalgische Aufwärmung alter Mythen, sondern eine neue Theorie symbolischen Denkens – sein Horizont ist jedoch weiter als der von seelisch verarmten Rationalisten aber auch von denen dem Unbewussten mit Bildern huldigen, weil er die menschliche Sehnsucht nach Mythen und Bildern nicht nur verdammt, sondern ernstnimmt, aber ihre bewußte Durchdringung fordert. Im Gegensatz ging Leni Riefenstahl im Sog der Symbole unter. Dass nach wie vor viele Menschen mythischen Bildern erliegen, die in Gewalt und Abhängigkeit münden können, beweisen problematische Kino- und Videofilme, politische Korrektheit, religiöser, anti-religiöser und anti-westlicher Fundamentalismus , rechte und linke Ausgrenzungswahn, ja auch die Wiederkehr von pseudo-religöser Symbolik in der Politik (z.B. die schwarze Messe im Bundestag 2012). “Wer die Verdienste abendländischer Kultur verkleinern wollte, würde den Ast absägen, auf dem der europäische Geist sitzt.” (24)
1) Aniela Jaffé: Aus Leben und Werkstatt von C.G.Jung, Zürich und Stuttgart 1968, 89f
2) Ebd. 95
3) C.G. Jung, Gesammelte Werke, Band 10, Solothurn und Düsseldorf 1995, 190f
4) Ebd. 25
5) Ebd. 190
6) Ebd. 106, Jung spricht hier sogar vom “arischen Raubvogel” und seiner “unersättlichen Beutegier”, die ihn “über alle ihn nichts
angehenden Länder führt” sowie von unserem “Größenwahn, der sich zum Beispiel einbildet, das Christentum sei die einzige
Wahrheit, der weiße Christus der einzige Erlöser.”
7) Ebd. 61f
8) Karl Marx: “Zur Judenfrage”, MEW Bd.1, 376f und “Neue Rheinische Zeitung” 1849, zitiert in Konrad Löw: Das Rotbuch der
kommunistischen Ideologie, München 1999, 74f. (Diese Stelle ist in der Marx-Engels-Gesamtausgabe nicht enthalten)
9) Jung, Gesammelte Werke, Bd.9/1, 60f
10) Jung, Gesammelte Werke, Bd.10, 203ff
11) Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1973
12) Jung, Gesammelte Werke Bd. 10, 221f, 237f, 268ff, 273,
13) Aniela Jaffé: a.a.O. 103f
14) Aryan Maidenbaum/ Stephen A. Martin (Hg.): Lingering Shadows: Jungians, Freudians and Anti-Semitism, Boston/ London
1991
15) Ebd. 277ff
16) J. Marvin Spiegelman: Judaism and Jungian Psychology, Boston/ London 1993, 21f
17) Ebd. 47
18) Ebd. 25f, 40
19) Ebd. 56ff
20) In seinem Buch “The Jung Cult. Origins of a Charismatic Movement” (Princeton 1994) versucht Richard Noll in reiner Konzentration auf das Frühwerk und auch dort vereinfachend nachzuweisen, daß Jung aus Aversion gegen das “Semitische” nur die “arisch-indoeuropäischen” Mythen interessiert hätten. Doch kommen in dessen frühen Schriften auch Symbole und
Göttervorstellungen aus Ägypten und Asien vor. Ein paar Bemerkungen über “Siegfried”, “Walhall” und die “Walküren” sowie reale bzw. vermutete Bekanntschaften mit völkischen Autoren reichen noch nicht aus, um aus Jung einen völkisch orientierten Germanenmystiker á la Guido von List zu machen.
21) C.G. Jung, Gesammelte Werke, Bd. 11, 363ff, siehe auch Micha Brumlik: C.G.Jung. Zur Einführung, Hamburg 1993, 110 ff
22) C.G. Jung, Ges. Werke, Bd 11, 445
23) C.G. Jung, Ges. Werke, Bd 15, 49/50
24) C.G. Jung, Kommentar zu Richard Willhelm, das Geheimnis der Goldenen Blüte
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